Der Nordirak stellt Fragen

Gestern bin ich aus dem Nordirak zurückgekehrt. Ich war eine knappe Woche als Tourist dort, habe zwei, drei Orte besucht, mit Menschen gesprochen – so wie ich das seit fast zehn Jahren bei Reisen in andere arabische Länder mache. Ich habe das fremde Land, seine Menschen und ihr Tun mit meinen Augen gesehen und ihre Geschichten mit meinen Ohren gehört. Nun sitze ich wieder an meinem Computer zu Hause in Berlin.

Ich bin also nicht mehr weg, aber auch noch nicht daheim. Eher in einem „Dazwischen“. Von Reise zu Reise lernte ich diese kurze Zeit des Übergangs mehr und mehr zu schätzen, in dem die Eindrücke aus der Ferne wie ein schwacher Textmarker einzelne Aspekte meiner gewohnten Umgebung leicht hervorheben, bevor das gleißend helle Licht des Alltags und der Routine wieder alles gleichmäßig ausleuchtet. Warum es gerade diese oder jene Beobachtung ist, bleibt das Geheimnis des „Dazwischen“. Man kann die Botschaften des Unbewußten nur dankend annehmen und zur Selbsterkenntnis nutzen.

Beim Umsteigen am Flughafen Wien strahlt mich ein Buchladen mit seiner bunten Unmenge an Zeitschriften und Büchern an. Und wie schnell die Menschen in den U-Bahnhaltestellen in Berlin zu Fuß gehen! Markiert ist auch die nicht enden wollende e-Mail zu den geltenden Corona-Regelungen, die ich wegen meiner Rückkehr aus einem „Hochrisiko-Gebiet“ zugeschickt bekam. Ebenso die e-Mail des Klassenlehrers meines Sohnes, in der er zum zweiten Mal versucht, Elterngespräche zu organisieren. Genauer gesagt geht es erst mal nur darum, die „Zustimmung aller“ zum vorgeschlagenen Prozedere zu bekommen, „damit keine Ungerechtigkeiten entstehen“. Auch die beiden Kassenbons heben sich ab, die man mir unaufgefordert überreicht und die ich dennoch achtlos zurückließ.

Außer meiner Hotelrechnung habe ich im Nordirak nirgends Quittungen bekommen. Ich sah in vornehme Häuser, deren Zimmer mir sehr leer erschienen. Alle Menschen waren hilfsbereit und freundlich zu mir. Niemand schien es eilig zu haben. Die Angestellten am Flughafen in Erbil haben sich munter Fotos von Pässen und Corona-Testergebnissen wahrscheinlich via WhatsApp zugeschickt und so einen reibungslosen Ablauf ermöglicht. Überhaupt Corona: Was war das gleich noch?

Tragen wir nicht schweres Gepäck durch unser Leben? Ich meine nicht nur die vielen kleinen oder großen Dinge, die unsere Wohnungen und Keller fühlen. Auch die Wünsche, Träume, Verantwortlichkeiten, Entscheidungen, Fragen und Ängste in unseren Herzen und Köpfen. Nie war unser Leben freier, individueller und diverser. Das eigene Leben selbst erfinden zu dürfen ist sicher ein Geschenk. Es kann aber zur Last werden, für jeden Moment des Lebens selbst verantwortlich zu sein.

In der arabischen Welt kann der einzelne Mensch sein Leben hingegen in viel geringerem Maße selbst gestalten. Bei allen Unterschieden zwischen den Ländern gilt doch allgemein, dass gesellschaftliche Gewohnheiten und Normen, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen den individuellen Möglichkeiten enge Grenzen setzen. Jeder Mensch ist Teil einer gesellschaftlichen Gruppe (Religion, Familie, Stamm, Partei, Miliz, …), die wesentliche Aspekte seines Lebens wie Sicherheit, Beruf, Einkommen oder Partnerwahl mitbestimmt. Die Menschen sind es gewohnt, einen Teil der eigenen Verantwortung für ihr Leben zu delegieren – an die göttliche Vorsehung, an die Gruppe oder auch an böse ausländische Mächte. Individuelle Menschen- und Freiheitsrechte spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle, eigenständiges und kritisches Denken ist kaum erwünscht, und die intellektuelle Produktivität und die wissenschaftlich-technische Innovationskraft sind gering.

Als Vorbild sollten wir uns die arabische Welt also nicht nehmen. Die farbenfrohe Vielfalt an Büchern und Zeitschriften in unseren Buchhandlungen sei deshalb gepriesen! Aber zur Selbstreflexion kann uns der Kontrast zur arabischen Welt dennoch anregen. Ist uns der Datenschutz wichtiger als pragmatische, schnelle Lösungen in der Corona-Krise? Warum begegnen uns im täglichen Leben immer mehr und immer längere Formulare, Briefe, Kassenzettel, e-Mails, …? Wollen wir dies akzeptieren, weil so Diskriminierung vermieden und für Gleichberechtigung gesorgt wird? Wo ist es aber vielleicht Ergebnis übertriebenen Sicherheitsdenkens, unnötiger Bürokratie oder falsch verstandener Rücksichtnahme? Und dann die großen Fragen des Lebens: Sind wir dabei, auch die letzten religiösen oder weltanschaulichen Vorgaben abzuschütteln und uns von allen Abhängigkeiten und Zwängen zu lösen? Und wenn wir alle Ketten gesprengt haben: Sind wir dann frei und glücklich? Oder ohne Halt und unglücklich?

COVID-Risikogebiete

Nachdem ich Mitte Januar von meiner Ägypten-Reise zurückgekehrt war, musste ich in Deutschland in eine zehntägige Corona-Quarantäne, so sah es die geltende Verordnung im Bundesland Berlin vor. Nach fünf Tagen wurde ich dank eines negativen COVID-Tests vorzeitig entlassen. Der Sinn dieser Maßnahmen schien mir auf den ersten Blick unstrittig: Es soll verhindert werden, dass ich aus dem „Risikogebiet“ Ägypten infiziert zurückkehre und andere Menschen anstecke. Nach fünf Tagen würde ein COVID-Test anschlagen, selbst wenn ich noch keine Symptome hätte.

Während meiner Quarantäne fragte ich mich, wie eigentlich die Einstufung Ägyptens als COVID-Risikogebiet begründet wird und nach welchem Verfahren sie erfolgt. Die Datenbasis in Ägypten ist wie in anderen Staaten mit vergleichsweiser schlechter öffentlicher Gesundheitsversorgung nämlich nicht mit derjenigen in Deutschland zu vergleichen. Die Unwissenheit und Unsicherheit ist daher relativ groß – auch für die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung, ob Ägypten ein Risikogebiet ist oder nicht.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) erklärt auf seiner Internetseite, dass die Einstufung als Risikogebiet „nach gemeinsamer Analyse und Entscheidung durch das Bundesministerium für Gesundheit, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat“ erfolge. „Die Einstufung als Risikogebiet basiert auf einer zweistufigen Bewertung. Zunächst wird festgestellt, in welchen Staaten/Regionen es in den letzten sieben Tagen mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner gab. In einem zweiten Schritt wird nach qualitativen und weiteren Kriterien festgestellt, ob z.B. für Staaten/Regionen, die den genannten Grenzwert nominell über – oder unterschreiten, dennoch die Gefahr eines nicht erhöhten oder eines erhöhten Infektionsrisikos vorliegt“ 1. Weitere Informationen zu den Einstufungen einzelner Länder wie z.B. Ägypten habe ich nicht gefunden.

Die oben bereits erwähnte Unsicherheit der Corona-Zahlen in Ägypten kann der Bundesregierung natürlich nicht zur Last gelegt werden. Aber mir wird nicht klar, wie sie beispielsweise bei Ägypten zu ihrer Entscheidung kommt und auf welcher Datenbasis die Einschätzung erfolgt. Was bedeutet der ziemlich nebulöse „zweiten Schritt“ des Verfahrens und seine unspezifischen „qualitativen und weiteren Kriterien“ konkret für die Entscheidungsfindung zu Ägypten? Der erste Schritt ist mit dem Inzidenzwert von 50 pro 100.00 Einwohnern wenigstens konkret, wirft auf den zweiten Blick aber eine gravierende Frage auf.

Warum wird die Inzidenz in einem Risikogebiet nicht ihn in Beziehung zum Inzidenzwert in Deutschland gesetzt? Es sind doch nicht die Fallzahlen im Land entscheidend, sondern ob sie höher oder niedriger sind als in Deutschland. Ich möchte es an einem Beispiel erklären. Deutschland hatte am 28. Januar 2021 einen Inzidenzwert von etwa 100 pro 100.000 Einwohnern. Wenn jemand aus einem Land mit 70 pro 100.000 Einwohner nach Deutschland einreist, stellt er demnach epidemiologisch eine geringere Gefahr da als jemand, der schon in Deutschland ist. Er verbessert die Lage sogar! Nach obiger Definition müsste er aber dennoch in Quarantäne, weil die Inzidenz in seinem Herkunftsland über 50 liegt. Wenn wir in Deutschland in ein paar Wochen die derzeit angestrebte Inzidenz von 35 erreicht haben werden, bleibt dann die Grenze von 50 für Risikogebiete erhalten oder wird sie abgesenkt? Ist es zu aufwändig, die sich verändernde Inzidenz in Deutschland mit zu betrachten? Wohl nicht. Bereits heute aktualisiert das RKI seine Seite zu den Risikogebieten1 fast täglich.

  1. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogebiete_neu.html, Stand: 28.01.2021

Eine Ägypten-Reise in Corona-Zeiten

Auf dem Weg zum BER begleitet mich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. An einem Zeitungsständer fällt mir die Schlagzeile „Merkel will Mega-Lockdown“ ins Auge. Am Bahnhof Südkreuz sind an diesem trüben Tag Mitte Januar 2021 wenige Menschen mit Koffern wie ich unterwegs. Der Intercity nach Dresden ist gering besucht, am Flughafen steigt kaum jemand aus. Beim Check-in für meinen Flug nach Kairo werde ich sofort nach einem Corona-Testergebnis gefragt. Der Passagier am Nebenschalter wird darauf hingewiesen, dass sein Schnelltest nicht für die Einreise genügen wird. Vielmehr sei ein PCR-Test nötig, der nicht älter als 72 Stunden sein dürfe. Vorgestern habe ich bei einem privaten Anbieter einen Test für 69 Euro gemacht. Der Ablauf war bestens organisiert, und ich hatte einige Stunden später mein Ergebnis auf dem Handy.

Ich gehe weiter zum Gate. Nigends muss ich warten, weder bei der Kontrolle des Handgepäcks noch bei der Passkontrolle. Die Angestellten sind entspannt oder unterhalten sich gelangweilt miteinander. Viele Geschäfte sind geschlossen, auch die meisten Cafés und Restaurants. Auf das Flugfeld fällt der Schneeregen. Im Hintergrund stehen die EasyJet-Maschinen hübsch aufgereiht. Mit ihren orange verhüllten Turbinen wirken sie wie übergroße und verspätete Weihnachtsgeschenke. Dahinter stehen weitere Maschinen einer anderen Fluglinie traurig unter trübem Himmel.

Nach dem Start meiner EgyptAir-Maschine werde ich per Durchsage informiert, dass während des gesamten Fluges eine Maske getragen werden müsse und dass das Flugzeug mit Filtern ausgestattet sei, die Viren und Bakterien aus der Luft entfernten. Vor der Ankunft in Kairo fülle ich eine Erklärung für die ägyptischen Behörden aus, dass ich keine COVID-19-Symptome habe und dass ich die Hotline 105 anrufe werde, falls ich während meines Aufenthalts welche bekommen sollte. Meine Erreichbarkeit in Ägypten muss ich auch angeben. Nach der Landung wird mein negatives COVID-19-Testergebnis kontrolliert, bevor ich in die milde ägyptische Abendluft entlassen werde.

Ich nehme ein Taxi vom Flughafen zu meinem Hotel in Kairo Downtown. Es fährt mich Mahmud, der mir geschäftstüchtig seine Rufnummer gibt und wunderbare Touren zu den Pyramiden in Aussicht stellt. Alle Museen und Sehenswürdigkeiten seien geöffnet, die Hotels ebenso. Er meint, dass es kaum Corona-Probleme gäbe in Ägypten, weil die Sonne und Wärme nicht gut für Viren und Krankheitserreger sei – und bietet mir ein Desinfektionsmittel an.

Im meinem Hotel angekommen, tragen alle Angestellten Mundschutz. Am Eingang stehen Desinfektionsmittel bereit. Als ich einchecke, höre ich aus dem Restaurant das letzte Lied einer Musikerin am heutigen Freitag Abend. Auf Nachfrage erfahre ich, dass der Fitnessbereich und der Pool geöffnet sind. Am nächsten Morgen empfängt mich ein traumhaftes Frühstücksbüffet. Selbstbedienung ist indes nicht möglich, stattdessen werden mir die Gaumenfreuden vom Personal gereicht.

Heute möchte ich die Pyramiden in Gize besuchen und fahre mit der Metro zur gleichnamigen Haltestelle. In den Metro-Stationen und den Zügen werden Mund und Nase konsequent bedeckt. Diverse Plakate fordern die Fahrgäste auf, sich und andere zu schützen und informieren über typische Symptome und empfohlene Verhaltensweisen. Eine Durchsage in Endlosschleife warnt die Anwesenden, dass bei Nichtbeachtung der Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes eine sofortige Geldstrafe zu zahlen sei. Ein Ägypter ermahnt zwei westlich aussehende Fahrgäste, weil sie kurz den Mundschutz abnehmen, um ein Selfie zu machen.

Die letzte Etappe zu meinem Ziel fahre ich mit einem Minibus. Viele Fahrgäste bedecken auch hier Mund und Nase, manche aber nicht. An das Einhalten eines Mindestabstands ist bei diesem Verkehrsmittel nicht zu denken und widerspricht geradezu seinem Wesen: Der Bus fährt nämlich erst los, wenn alle Plätze belegt sind und sich damit für den Fahrer wie auch für die Fahrgäste ein akzeptabler Preis ergibt. Am Eingang zum Pyramidengelände wird meine Temperatur gemessen und mir ein Mittel zum Desinfizieren meiner Hände angeboten. Dieses Procedere sollte sich während meines Aufenthalts noch häufig wiederholen.

Nach zwei Tagen beschließe ich, mit dem Zug nach Alexandria an der Mittelmeerküste zu fahren. Vor Abfahrt meines Zuges am Ramses-Bahnhof gehe ich ins Bahnhofsrestaurant und erhole mich bei einem Kaffee vom monströsen Kairoer Straßenverkehr. Auf jedem Tisch steht ein Desinfektionsmittel. Überhaupt wird auch im gesamten Bahnhof das Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung weitgehend eingehalten.

Während der dreistündigen Fahrt trägt das Personal gewissenhaft eine Maske. Bei den Fahrgästen macht sich vereinzelt Nachlässigkeit breit, die ich auch von mir selbst in Deutschland kenne. Diverse Aushänge im Zug informieren über COVID-19. Das Plakat mit dem Titel „Das neue Corona-Virus – Wie sich diejenigen selbst schützen können, die medizinische Pflegeleistungen anbieten“ wird hier aber wohl eher selten das richtige Publikum finden.

Meine Hoffnung auf Urlaubsgefühle am Mittelmeer erfüllt sich leider nicht. Das kühle und regnerische Wetter zwingt mich, Alternativen zu suchen. So besuche ich die Neue Bibliothek. Als ich sie gerade wieder verlasse, nimmt eine Einheit der ägyptischen Armee am Eingang Aufstellung. In grünen Schutzanzügen und weißen Gummistiefeln beginnen sie damit, den Vorplatz des Museums wegen Corona zu desinfizieren. Meine anschließende Fahrt mit der Straßenbahn erinnert mich an die U6 in Berlin: In den öffentlichen Verkehrsmitteln ballen sich Menschen, Abstand halten ist praktisch unmöglich. Während die Wagons gemächlich durch die Straßen schleichen und sich der Schaffner mehrmals durch die Fahrgäste zwängt, um den neu Zugestiegenen ein Ticket zu verkaufen, frage ich mich, ob Frauen gewissenhafter Mund und Nase bedecken als ihre männlichen Landsleute?

An den Mauern eines Schulhofs fallen mir „allgemeine Richtlinien“ zum Umgang mit Corona ins Auge:

  • Stelle sicher, dass Du Deinen Mund und Nase beim Husten und Niesen bedeckst
  • Halte Deine Hände von Mund, Nase und Augen fern
  • Wasche Deine Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeide Orte mit vielen Menschen

Am Abend esse ich bei KFC. Auf jedem zweiten Tisch liegt ein Stuhl quer – eine pragmatische Art um für Abstand zu Sorgen.

Nach insgesamt sechs Tagen in Kairo und Alexandria mache ich mich auf die Rückreise nach Deutschland. Bevor man mir am Kairoer Flughafen meine Bordkarte für meinen Direktflug nach Berlin aushändigt, muss ich meine Einreise nach Deutschland unter einreiseanmeldung.de anmelden. Die Seite lässt mich wissen, dass ich nach meiner Rückkehr in Deutschland grundsätzlich in eine 14-tägige Quarantäne müsse, die Details aber in der Zuständigkeit meines Bundeslandes lägen.

Nach der Landung am BER prüft die Bundespolizei bei der Passkontrolle meine oben erwähnte Anmeldung und entlässt mich in den Berliner Winter. Ich fahre mit der neuen Buslinie „BER 2“ . Ich bin der einzige Fahrgast und komme mit dem etwa 60-jährigen Busfahrer ins Gespräch. Als er hört, dass ich gerade aus Ägypten zurück gekehrt bin, erzählt er mir sehnsuchtsvoll, dass er so gern wieder zum Tauchen nach Marsa Alam am Rote Meer reisen würde. Leider gäbe es derzeit keine Flüge dorthin.

Während ich diese letzten Zeilen schreibe, habe ich fünf Tage zu Hause in Quarantäne verbracht und gerade das negative Ergebnis meines Corona-Tests bekommen, den ich vor einigen Stunden gemacht habe. Damit bin ich nach den Regelungen des Bundeslandes Berlin vorzeitig aus der Quarantäne entlassen.

Gehen die Ägypter anders mit der COVID-Pandemie um? Ja und nein. Ich möchte es anhand der „AHA-Regeln“ vergleichen: Handhygiene wird groß geschrieben, Alltagsmasken werden durchaus getragen, Abstandhalten ist aussichtslos. Letzteres hat einerseits mit praktischen Problemen durch die dichte Besiedlung zu tun. Ein Minibus oder eine Metro in Kairo sind nahezu immer rappelvoll. Vielleicht gibt es aber auch kulturelle Ursachen dafür, dass uns Deutschen das Abstandhalten leichter fällt und den Ägyptern die Handhygiene. So waschen sich Muslime vor jedem Gebet u.a. die Hände, und Düfte werden in der arabischen Welt sehr geschätzt. Auf der anderen Seite habe ich in der arabischen Welt häufig mehr gleichgeschlechtlichen Körperkontakt in der Öffentlichkeit erlebt als in Deutschland.

Der Oder-Neiße-Radweg und die Zukunft Europas

Bei einer mehrtägigen Fahrradfahrt entlang der deutsch-polnischen Grenze konnte ich erleben, wie offene Grenzen die alltägliche Begegnung zwischen Angehörigen benachbarter Staaten ermöglichen und dem friedlichen Miteinander in Europa dienen. Wenig erinnert bei der Fahrt über die Oderbrücken bei Küstrin daran, dass sie zwei Länder verbinden. Die Fährfahrt vom Ost- ans Westufer der Oder unterscheidet sich kaum vom Übersetzen über die Elbe.

Polnische Skater erfreuen sich an den perfekt asphaltierten deutschen Radwegen, die deutschen Nachbarn kaufen bei Aldi in Polen günstig ein. Auf deutscher Seite bauen polnische Handwerker Häuser, der polnische Zahnarzt behandelt gerne deutsche Patienten in seiner Praxis. Unsere Kanufahrt in die Polder der unteren Oder begann in Mescherin auf deutscher Seite, führte durch polnisches Staatsgebiet und endete schließlich wieder auf deutschem.

Trotzdem sind wir während unserer Aufenthalte in Polen ununterbrochen auf ein kaum zu überwindendes Hindernis gestoßen – nämlich dass wir Deutschen und Polen unterschiedliche Sprachen sprechen. So waren Gespräche nahezu unmöglich, und unser Alltag wurde sehr erschwert – beim Einkaufen, im Restaurant und beim sich Erkundigen nach dem Weg. Alle schriftlichen und mündlichen Verlautbarungen blieben uns unzugänglich: Informationstafeln, Durchsagen in der Straßenbahn in Stettin, Speisekarten, Werbung, Preisaushänge, Zeitungen, Fernsehen, Austellungen, die SMS unseres polnischen Mobilfunkanbieters und so fort. Im Vergleich hierzu erschien uns der erforderliche Umtausch von Euro in polnische Zsłoty als belanglose Unbequemlichkeit.

Natürlich spiegelt die Vielzahl an Sprachen die wertvolle kulturelle Vielfalt Europas wider. Nach den Schlagbäumen an den innereuropäischen Grenzen müssen wir aber diese Sprachgrenzen beseitigen, damit wir Europäer ganz alltäglich mit- statt nur nebeneinander leben können. Wir brauchen neben unseren Muttersprachen eine gemeinsame europäische Sprache!

Terrorismusbekämpfung kann lebensgefährlich sein

Eine Kosten-Nutzen-Rechnung der nach dem 11. September 2011 intensivierten Terrorismusbekämpfung steht nach wie vor aus. Manchen gilt sie als „unmöglich“ wegen fehlender Transparenz und notwendiger Geheimhaltung. Andere halten sie für „unmoralisch“ nach dem Motto: Man kann doch nicht Menschenleben mit Gehältern von Polizisten aufwiegen. Vielleicht sind das aber auch nur Scheinargumente derer, denen sie schlicht „unerwünscht“ ist.

Wie dem auch sei. Dem „Nutzen“ verhinderter Anschläge stehen jedenfalls nicht nur die monetären „Kosten“ der Sicherheitsbehörden und die Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte zugunsten der Sicherheit gegenüber. Auch Fehlalarme wie die Absage des Länderspiels zwischen Deutschland und den Niederlanden im November letzten Jahres sind zu den Kosten zu zählen. Und schließlich hat der Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 in den französischen Alpen gezeigt, dass auch tödliche „Nebenwirkungen“ auf das Konto der Terrorismusbekämpfung gehen .

Nach den schrecklichen Ereignissen des 11. September 2001 wurden die Bestimmungen in der Luftfahrt dahingehend geändert, dass – vereinfacht gesagt – die Tür des Cockpits vom Passagierbereich aus nur zu öffnen ist, wenn dies im Cockpit erlaubt wird. So wollte man Terroristen den Zugang zum Cockpit verwehren. Im März letzten Jahres konnten deshalb die anderen Mitglieder der Besatzung den Copiloten, der alleine im Cockpit war, nicht daran hindern, die Maschine abstürzen zu lassen und 150 Menschen das Leben zu nehmen.

Vor dem 11. September 2001 wäre dieses Unglück mit hoher Wahrscheinlicheit verhindert worden.

Glückwunsch, AfD!

Zum sogenannten „Anti-Islam-Kurs“ muss man der AfD gratulieren. Die Partei hat ein Thema mit großem Potential entdeckt. Während Euro- und Flüchtlingskrise in unserer schnelllebigen Zeit leicht an Zugkraft einbüßen, verspricht der Dauerbrenner „Islam“ auf lange Frist propagandistische Früchte abzuwerfen. Etwaige zukünftige Anschläge durch islamistische Terroristen oder Ereignisse wie in der Silvesternacht zu Köln sind da nur die Spitze des Eisbergs an Unkenntnis, Gerüchten und Befürchtungen auf der einen und tatsächlichen Problemen und Herausforderungen im und im Umgang mit dem Islam auf der anderen Seite. Alle konstruktiven gesellschaftlichen Kräften sind nun aufgefordert, den richtigen Umgang mit dieser Herausforderung zu finden. Hierzu gehört zuvorderst, das Thema überhaupt anzunehmen und sich nicht zu verweigern.

Wo die AfD ihre Finger in die Wunde legt, muss zweierlei geschehen. Einmal müssen die „Finger“ als das entlarvt, was sie sind: Nicht die heilenden Finger eines Arztes, sondern Finger, die Salz in die Wunde streuen. Das alleine genügt aber nicht – die „Wunde“ muss nämlich trotzdem noch versorgt werden! Missstände und Probleme müssen erkannt, benannt und gelindert werden. Dies erfordert Sachkenntnis und eine politisches Programm. Haben wir da nicht alle Nachholbedarf?

Und wo es gar keine Wunde gibt? Unkenntnis, Ängste und Vorurteile dürfen nicht nachgeplappert oder gar übernommen werden, sondern müssen mit Fakten widerlegt werden. Immer und immer wieder.

Sind offene Grenzen in Europa „alternativlos“?

Die schrillen Töne der Flüchtlingskrise waren seit Monaten verklungen, als ich vor einigen Tagen zufällig wieder über einen Beitrag stolperte, den ich Ende 2012 über das Unwort „alternativlos“ geschrieben hatte. Ich erinnerte mich wieder daran, dass Forderungen nach Grenzschließungen in der Hochphase der Flüchtlingskrise von den Gegnern sehr schnell ins Reich des Unmöglichen verwiesen und so keiner weiteren Diskussion für würdig befunden wurden. „Man kann doch nicht die Grenzen schließen!“ – „Soll man denn auf Flüchtlinge schießen?“ – „Wie soll man denn die griechisch-türkische Grenze sichern:  so viele Inseln, solange Küsten – unmöglich!“

Inzwischen haben uns die Länder auf der Balkanroute eines besseren belehrt. Man mag einwenden, dass damit das Problem nur verlagert wurde oder dass keine Grenze einer beliebig großen Menschenmenge standhalten könne. Aber auch die griechische EU-Außengrenze ist für Flüchtlinge aus der Türkei praktisch geschlossen. Nicht durch Zäune und nicht alleine mittels Küstenwache und Polizei, sondern ganz wesentlich dank eines begleitenden Abkommens zwischen der EU und der Türkei.

Rückblickend habe ich den Eindruck, dass manche Gegner von Grenzschließungen damals nach dem Motto vorgingen: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Neben berechtigten Argumenten – wie dem Appell an die humanitäre Verantwortung oder die Warnung vor der bloßen Verlagerung des Problems und vor negativen Auswirkungen auf den inneren Zusammenhalt Europas – wurden angebliche Fakten und Unmöglichkeiten ins Feld geführt. Wollte man mit harten, unumstößlichen „Fakten“ anstelle von weichen, abwägbaren Argumenten die politische Diskussion ersticken? Sollten offene Grenzen „alternativlos“ sein?

Der Wahl-Sonntag: Ein guter Tag für die Demokratie!

Wie bitte? Die AfD wird bei der Landtagswahl Sachsen-Anhalt aus dem Stand zweitstärkste Partei und fährt auch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein zweistelliges Ergebnis ein. CDU und SPD haben nicht einmal zusammen die absolute Mehrheit der Sitze im sachsen-anhaltinischen Parlament. Was lässt sich dieser „Sensation“, diesem „Erdbeben“ Gutes abgewinnen?

Ein Ergebnis der drei gestrigen Landtagswahlen ging indessen fast unter. Es fand nur vereinzelt Erwähnung, etwa im „Heute Journal“. In der heutigen Tagespresse gelang es zwischen all den bunten Balken und Kuchendiagrammen kaum an die mediale Oberfläche. Die Wahlbeteiligung ist in allen drei Bundesländern um vier bis zehn Prozentpunkte in die Höhe geschossen! Nach den vorläufigen amtlichen Endergebnissen in Baden-Württemberg von 66,3% auf 70,4%, in Rheinland-Pfalz von 61,8% auf ebenfalls 70,4% und in Sachsen-Anhalt von schwachen 51,2% immerhin auf 61,1%.

Wurde in den letzten Jahren die „Poliktikverdrossenheit“ nicht wortreich beklagt? Natürlich ist es bedauerlich, dass ein Großteil der ehemaligen Nichtwähler für die AfD gestimmt hat. Aber wäre es besser gewesen, sie wären zu Hause geblieben? Nein. Besser für eine Demokratie ist es, wenn sich diese Meinungen im Wahlergebnis widerspiegeln als im Dunkel der Nichtwähler zu gären.

Sigmar Gabriel meinte, die demokratische Mitte sei schwächer geworden. Für die Arbeit in den Landesparlamenten mag das gelten. Gesamtgesellschaftlich hat das Wahlergebnis nur sichtbar gemacht, wie dünn die demokratische Mitte schon vorher war. Nun genügt es nicht mehr, am Wahltag beiläufig die geringe Wahlbeteiligung zu beklagen. Mit der AfD müssen sich die etablierten Parteien in den nächsten fünf Jahren nun täglich auseinandersetzen – und das ist gut für die Demokratie.

Zwei Bilder und ich

Zwei Bilder genügen, um das gesamte Spektrum der Gefühle und Meinungen zur Flüchtlingskrise einzufangen und die Zerrissenheit Deutschlands und Europas zu symbolisieren. Das eine Bild entstand Anfang September letzten Jahres, das andere vor einigen Tagen. Auf dem ersten ist ein Geflohener zu sehen, wie er ein Selfie mit der freudig strahlenden deutschen Bundeskanzlerin schießt. Das zweite zeigt die Vorderseite eines Busses mit verängstigten Flüchtlingen in Sachsen, der von einem wütenden und skandierenden Mob bedrängt wird.

Beim ersten Betrachten dieser Bilder sind meine Gedanken noch klar und meine Gefühle unzweideutig. Was sind das für Unmenschen! Ich will doch nicht, dass Kinder vor Angst weinend in Deutschland ankommen, nachdem sie gerade Krieg und Elend hinter sich gelassen haben. Das zweite Bild zeigt sicher nicht „mein Deutschland“, das erste hat all meine Sympathie.

Doch dann sehe ich den Bus des Unternehmens „Reiselust“ in einer libanesischen Nachrichtensendung wieder. Mich begann die Frage zu irritieren, welche Wirkung solche Bilder bei anderen Betrachtern, etwa in Syrien, Libanon und Afghanistan entfalten mögen? Das Selfie mit Frau Merkel nährt die Hoffnung vieler Elender auf eine bessere Zukunft in Deutschland. Der Mob in Clausnitz keineswegs. Möchte ich weitere Flüchtlinge mit dem ersten Bild, das mir doch so viel besser gefällt, nach Deutschland „einladen“? Ist dies das richtige Signal angesichts der beträchtlichen Migrationsströme auf der einen und der Tatsache auf der anderen Seite, dass sich mehr und mehr Länder gegen Flüchtlinge abschotten, ihre Grenzen schließen und eine europäische Lösung in weiter Ferne ist? Kann Deutschland das „Versprechen“ dieses Bildes tatsächlich einlösen?

Verwirrt rufe ich mir zu: Aber es kann und darf doch nicht sein, dass ich den Untaten der angeblich „besorgten Bürger“ etwas Gutes abgewinne! Muss Deutschland Flüchtlinge etwa „abschrecken“? Ist das erste Bild vielleicht gut gemeint, aber in seiner Wirkung schlecht gemacht? Verläuft hier die Grenze zwischen dem einzelnen, Hilfe suchenden Fremden und dem anonymen Flüchtlingsstrom? Sind die „Gutmenschen“ diejenigen, die dem Einzelnen helfen wollen und dabei das Massenphänomen mit seinen eigenen Regeln und politischen und gesellschaftlichen Implikationen ignorieren? Dort Gesinnungs-, hier Verantwortungsethik? Und auf welcher Seite stehe ich?

Zwischen diesen Fragen zeichnet sich zumindest eine Erkenntnis ab. Es ist bequem und naiv zugleich, in unserem globalisierten digitalen Zeitalter solche Bilder nur durch die eigene Brille zu betrachten und ihre Wirkung auf Menschen in „fernen“ Ländern auszublenden. Weniger Geschrei und Beschimpfungen, dafür mehr Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit täten der Debatte in unserem Land gut. Richtig bleibt aber auch: Die Taten des Mobs in Clauswitz sind weder gutzuheißen noch zu entschuldigen.

„Der Stimmungsumschwung“

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© „Süddeutsche Zeitung“, 18.1.2016

Der Zuspruch für Frau Merkels Flüchtlingspoltik hat sich zwischen Mitte Dezember 2015 und Mitte Januar diesen Jahres also verflüchtigt. Köln lässt grüßen! War die Aufregung der Spitzenpolitiker also berechtigt? Oder haben gerade die hitzigen, schrillen „Diskussionen“ die Ängste in der Bevölkerung verstärkt?