Gestern bin ich aus dem Nordirak zurückgekehrt. Ich war eine knappe Woche als Tourist dort, habe zwei, drei Orte besucht, mit Menschen gesprochen – so wie ich das seit fast zehn Jahren bei Reisen in andere arabische Länder mache. Ich habe das fremde Land, seine Menschen und ihr Tun mit meinen Augen gesehen und ihre Geschichten mit meinen Ohren gehört. Nun sitze ich wieder an meinem Computer zu Hause in Berlin.
Ich bin also nicht mehr weg, aber auch noch nicht daheim. Eher in einem „Dazwischen“. Von Reise zu Reise lernte ich diese kurze Zeit des Übergangs mehr und mehr zu schätzen, in dem die Eindrücke aus der Ferne wie ein schwacher Textmarker einzelne Aspekte meiner gewohnten Umgebung leicht hervorheben, bevor das gleißend helle Licht des Alltags und der Routine wieder alles gleichmäßig ausleuchtet. Warum es gerade diese oder jene Beobachtung ist, bleibt das Geheimnis des „Dazwischen“. Man kann die Botschaften des Unbewußten nur dankend annehmen und zur Selbsterkenntnis nutzen.
Beim Umsteigen am Flughafen Wien strahlt mich ein Buchladen mit seiner bunten Unmenge an Zeitschriften und Büchern an. Und wie schnell die Menschen in den U-Bahnhaltestellen in Berlin zu Fuß gehen! Markiert ist auch die nicht enden wollende e-Mail zu den geltenden Corona-Regelungen, die ich wegen meiner Rückkehr aus einem „Hochrisiko-Gebiet“ zugeschickt bekam. Ebenso die e-Mail des Klassenlehrers meines Sohnes, in der er zum zweiten Mal versucht, Elterngespräche zu organisieren. Genauer gesagt geht es erst mal nur darum, die „Zustimmung aller“ zum vorgeschlagenen Prozedere zu bekommen, „damit keine Ungerechtigkeiten entstehen“. Auch die beiden Kassenbons heben sich ab, die man mir unaufgefordert überreicht und die ich dennoch achtlos zurückließ.
Außer meiner Hotelrechnung habe ich im Nordirak nirgends Quittungen bekommen. Ich sah in vornehme Häuser, deren Zimmer mir sehr leer erschienen. Alle Menschen waren hilfsbereit und freundlich zu mir. Niemand schien es eilig zu haben. Die Angestellten am Flughafen in Erbil haben sich munter Fotos von Pässen und Corona-Testergebnissen wahrscheinlich via WhatsApp zugeschickt und so einen reibungslosen Ablauf ermöglicht. Überhaupt Corona: Was war das gleich noch?
Tragen wir nicht schweres Gepäck durch unser Leben? Ich meine nicht nur die vielen kleinen oder großen Dinge, die unsere Wohnungen und Keller fühlen. Auch die Wünsche, Träume, Verantwortlichkeiten, Entscheidungen, Fragen und Ängste in unseren Herzen und Köpfen. Nie war unser Leben freier, individueller und diverser. Das eigene Leben selbst erfinden zu dürfen ist sicher ein Geschenk. Es kann aber zur Last werden, für jeden Moment des Lebens selbst verantwortlich zu sein.
In der arabischen Welt kann der einzelne Mensch sein Leben hingegen in viel geringerem Maße selbst gestalten. Bei allen Unterschieden zwischen den Ländern gilt doch allgemein, dass gesellschaftliche Gewohnheiten und Normen, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen den individuellen Möglichkeiten enge Grenzen setzen. Jeder Mensch ist Teil einer gesellschaftlichen Gruppe (Religion, Familie, Stamm, Partei, Miliz, …), die wesentliche Aspekte seines Lebens wie Sicherheit, Beruf, Einkommen oder Partnerwahl mitbestimmt. Die Menschen sind es gewohnt, einen Teil der eigenen Verantwortung für ihr Leben zu delegieren – an die göttliche Vorsehung, an die Gruppe oder auch an böse ausländische Mächte. Individuelle Menschen- und Freiheitsrechte spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle, eigenständiges und kritisches Denken ist kaum erwünscht, und die intellektuelle Produktivität und die wissenschaftlich-technische Innovationskraft sind gering.
Als Vorbild sollten wir uns die arabische Welt also nicht nehmen. Die farbenfrohe Vielfalt an Büchern und Zeitschriften in unseren Buchhandlungen sei deshalb gepriesen! Aber zur Selbstreflexion kann uns der Kontrast zur arabischen Welt dennoch anregen. Ist uns der Datenschutz wichtiger als pragmatische, schnelle Lösungen in der Corona-Krise? Warum begegnen uns im täglichen Leben immer mehr und immer längere Formulare, Briefe, Kassenzettel, e-Mails, …? Wollen wir dies akzeptieren, weil so Diskriminierung vermieden und für Gleichberechtigung gesorgt wird? Wo ist es aber vielleicht Ergebnis übertriebenen Sicherheitsdenkens, unnötiger Bürokratie oder falsch verstandener Rücksichtnahme? Und dann die großen Fragen des Lebens: Sind wir dabei, auch die letzten religiösen oder weltanschaulichen Vorgaben abzuschütteln und uns von allen Abhängigkeiten und Zwängen zu lösen? Und wenn wir alle Ketten gesprengt haben: Sind wir dann frei und glücklich? Oder ohne Halt und unglücklich?